„Als wir die Ocean Viking sahen, hat dies bei allen wieder Hoffnung geweckt. Die Hoffnung, dass wir noch leben können.“

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Ali* wurde 2020 von den SOS MEDITERRANEEE Teams gerettet. Eineinhalb Jahre später besuchte er die Ocean Viking.

Eineinhalb Jahre nach seiner Rettung im zentralen Mittelmeer besuchte der 17-jährige Ali* im November 2021 die Ocean Viking. Im Februar 2020 war er gerade einmal 16 Jahre alt, als er vor der libyschen Küste aus einem seeuntauglichen Boot gerettet wurde. Als unsere Teams sein Boot in Seenot lokalisierten, hatte Ali* weder eine Rettungsweste noch Wasser oder Nahrung dabei. Seit er an einem sicheren Ort an Land gehen konnte, wurde Ali* von Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige (UM) betreut. Er geht zur Schule, macht eine Ausbildung, spielt wieder gerne mit Gleichaltrigen Fussball und nimmt manchmal an Veranstaltungen teil, um auf die Menschenrechtsverletzungen in Libyen aufmerksam zu machen. Bei einer von SOS MEDITERRANEE organisierten Veranstaltung fragte Ali* unsere Teams, ob er die Ocean Viking besuchen dürfe, die in der Nähe ankerte. Einige Tage später stand er auf dem Deck des Schiffes. Für die Teammitglieder, die ihn bei diesem Besuch begleitet hatten, war es ein emotionaler Moment. Laurence Bondard, Kommunikationsbeauftragte an Bord, hat diesen Moment, in Worte gefasst.

Als er an diesem kalten Novembermorgen in Begleitung von Nicolas, seinem Sozialarbeiter, und Mitgliedern des SOS MEDITERRANEE-Teams die Ocean Viking betritt, sind Alis* Emotionen spürbar. Er schaut sich alles genau an, seine Augen sind weit geöffnet. Lange Zeit sagt er nichts.

Kurz vor dem nächsten Einsatz der Ocean Viking sind die Teams damit beschäftigt, das Schiff und die Rettungsausrüstung zu warten und die Versorgung für zukünftige gerettete Personen vorzubereiten. Hier frischt ein Teammitglied den Lack auf, dort bringen andere eine Plane auf dem Achterdeck an, um möglichst viele der Geretteten vor dem Regen zu schützen. Dazwischen bahnt sich Ali* mit einem Schulrucksack auf den Schultern schüchtern seinen Weg. In der Nähe des Frauen- und Kinderschutzraums stösst er auf ein Schild mit der Aufschrift „You are safe“ (Ihr seid in Sicherheit). Erinnerungen kommen hoch. „Ich erinnere mich, dass wir dort vorne zu den Klängen von Trommeln tanzten, die ihr uns geliehen hattet. Habt ihr die noch?“, fragt er und lächelt hinter seiner FFP2-Maske. „Ja, wir haben die Trommeln, Bücher und Kinderspiele noch.“ „Ah die Bücher, es gab viele davon!“ Alis* Gesichtszüge entspannen sich für einen Moment. Aber dies hält nicht lange an. „Bevor wir von der Ocean Viking gerettet wurden, war das Leben wirklich nicht einfach“, flüstert er, „zwischen dem Leben in Libyen und dem, was wir an Bord der Ocean Viking zu sehen begannen, sind Welten. Auf der Ocean Viking waren wir zufrieden. Wir bekamen trockene Kleidung, jeden Tag etwas zu essen und so weiter. Das sind unvergessliche Dinge. Ich bin so froh, dieses Schiff wiederzusehen.“

Ali* läuft weiter, bis er zum Schutzraum gelangt, der für Männer und Jugendliche vorgesehen ist. Doch die Erinnerungen an die Gewalt und den Missbrauch, die er erlitten hat, scheinen die beruhigenden Erinnerungen zu verschlucken. Der Teenager setzt sich auf eine Holzbank, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem er geschlafen hatte. „Diese Bank gab es nicht, als ich an Bord war“, stellt er fest. Sein Blick trübt sich erneut. „Ich weiss nicht, wie lange ich in Libyen war. Ich war vom Tag meiner Ankunft bis zum Tag meiner Flucht übers Meer inhaftiert. In Algerien war mein Onkel noch bei mir . Ich weiss nicht, wo er jetzt ist. Wir wurden bei unserer Ankunft in Libyen getrennt“, flüstert er, den Blick auf den Boden gerichtet. Die Teams an seiner Seite hören ihm zu, meist schweigend. Wer eine Frage über seine Flucht oder zu dem, was er in Libyen erlebt hat, stellt, riskiert, unerträgliche Erinnerungen zu wecken. Ali* wechselt das Thema, er spricht lieber über seine Rettung: „Als wir die Ocean Viking in der Ferne sahen, gab uns das so viel Hoffnung. Wir waren zwei Tage lang auf See. Wir hatten Hilfe gerufen, wir hatten sogar die libysche Küstenwache angerufen, weil wir uns völlig verirrt hatten. Einige wollten nicht, dass wir sie anrufen, weil sie Angst hatten, dass sie auf uns schiessen würden. Es war wirklich hart. Ich selbst hatte nach diesen zwei Tagen auf See keine Hoffnung mehr. Ich dachte, dass wir hier sterben würden. Die Ocean Viking zu sehen, hat bei allen wieder Hoffnung geweckt. Die Hoffnung, weiterzuleben.“ 

Ali* geht zwar nicht auf die Gewalt ein, die er in Libyen erlitten hat, aber sie schimmert in fast jedem seiner Worte durch. „Ist die Frau, die mich gepflegt hat, nicht hier?“, fragt er plötzlich. „Sie hatte mein Knie behandelt. Ich wurde auch in Italien behandelt, nachdem ich an Land gegangen war. Jetzt geht es mir besser“. Heute hat er endlich die Möglichkeit zur Schule zu gehen. Er kann auf wohlwollende Erwachsene zählen, die ihm helfen, sein Leben wieder aufzubauen und hat wieder Hoffnung in die Zukunft gefunden: „Ich gehe zur Schule und mache eine duale Ausbildung zum Mechaniker“, erzählt er stolz. „Die Erzieher*innen unterstützen mich sehr. Ich danke ihnen für all ihre Bemühungen und ich danke dem ganzen Team der Ocean Viking, dass sie uns gerettet haben. Ich werde es nie vergessen“.  Vor seiner Abreise bat Ali* Nicolas, ein Foto von ihm und einem Mitglied des Rettungsteams zu machen. Ein persönliches Foto, das ihm gehört, auf dem seine Augen leuchten. Ein Foto, das er unbedingt seinen Freunden zeigen möchte.

*Der Name wurde geändert, um die Identität des Überlebenden zu schützen.

Fotonachweis: Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE

 

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