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[28. Oktober – 10. November 2020] Auf Grundlage öffentlicher Berichte anderer NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse geben wir einen Überblick zu Such- und Rettungseinsätzen in den letzten zwei Wochen im zentralen Mittelmeer. Dieser hat nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, verschafft aber einen Eindruck über die Entwicklungen in dem Gebiet, in dem wir seit 2016 als Such- und Rettungsorganisation tätig sind.

Dieses Jahr wurden über 11.000 Menschen gewaltsam nach Libyen zurückgebracht, mehr als im gesamten Jahr 2019

Am 10. November ereignete sich vor der Küste Libyens ein tragischer Schiffbruch. Nach dem Kentern des Boots wurde eine Leiche geborgen. Mindestens 13 Personen wurden als vermisst gemeldet, darunter drei Frauen und ein Kind. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden elf Überlebende von der libyschen Küstenwache nach Libyen zurückgebracht.

Seit Januar wurden laut IOM mehr als 11.000 Menschen, die versuchten, aus Libyen zu fliehen, auf See abgefangen und gewaltsam in eben dieses Land zurückgebracht. Dies sind mehr als im gesamten Jahr 2019 (9.225 Personen).

Allein in den vergangenen zwei Wochen berichtete die IOM über das Abfangen und die Rückführung von 1.400 Frauen, Männern und Kindern. Fast 1.000 von ihnen wurden in den ersten drei Novembertagen abgefangen.

„Ohne konkrete Such- und Rettungsmassnahmen der Staaten, ohne eine sichere vorhersehbare Ausschiffung und ohne Solidarität werden mehr Menschen wieder in Zustände von Ausbeutung und Missbrauch zurückgeführt“, erklärte Federico Soda, Missionschef der IOM Libyen.

Ausserdem berichtete die IOM, dass am 30. Oktober und am 9. November insgesamt vier Leichen vor der libyschen Küste geborgen wurden.

Seitdem die Open Arms wieder im zentralen Mittelmeer im Einsatz ist, hat sie eine erste Rettung durchgeführt: eine entscheidende Präsenz während der fortgesetzten Festsetzung von sieben weiteren zivilen Rettungsschiffen

Die Open Arms der NGO Proactiva-Open Arms verliess am 4. November den Hafen von Barcelona, um ihre lebensrettende Mission im zentralen Mittelmeer wieder aufzunehmen. Sechs Tage später rettete die Crew des Schiffs 88 Menschen aus einem in Seenot geratenen Boot. Unter den Geretteten befanden sich zwei schwangere Frauen. Am Vortag hatte die Besatzung der Open Arms nach einem in Seenot geratenen Schlauchboot gesucht, das mit etwa 60 Personen an Bord auf See trieb. Bevor die NGO die letzte bekannte Position des Bootes erreicht hatte, wurde ihr mitgeteilt, dass die libysche Küstenwache dieses abgefangen habe. Die Besatzung stiess ebenfalls auf einen im Meer schwimmenden Rucksack sowie ein sinkendes Holzboot, in dem sich niemand befand.

Sieben zivile Rettungsschiffe, die normalerweise im zentralen Mittelmeer im Einsatz sind (Alan Kurdi, Sea Watch 3, Sea Watch 4, Mare Jonio, Ocean Viking, Louise Michel, Aita Mari), können ihren Einsatz aufgrund behördlicher Festsetzungen immer noch nicht wieder aufnehmen. Ende Oktober wurde zwei Besatzungsmitgliedern der NGO Mediterranea Saving Humans von den italienischen Hafenbehörden in Augusta, Sizilien, verweigert an Bord der Mare Jonio zu gehen. Dies war das dritte Mal seit dem 14. September. Dieses Verbot verhindert de facto, dass das Schiff seine lebensrettenden Einsätze im zentralen Mittelmeer wieder aufnehmen kann.

Deshalb ist die Präsenz der Open Arms von grundlegender Bedeutung für die europäische Zivilgesellschaft, um weiterhin Leben retten zu können und die Geschehnisse im zentralen Mittelmeer zu bezeugen.

Italienische Justiz lehnt Antrag auf strafrechtliche Verfolgung von Besatzungsmitgliedern der Open Arms ab

Am 4. November wurden – zeitgleich mit der Rückkehr der „Open Arms“ ins zentrale Mittelmeer – zwei Mitglieder der spanischen NGO durch das Gericht in Ragusa (Italien) vom Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einwanderung und „privater Gewalt“ (violenza privata) freigesprochen. Nach einer Voranhörung, „die Untersuchung nicht fortzusetzen“, da keine geeigneten Elemente für das Verbrechen der „privaten Gewalt“ gefunden habe und Beihilfe zur illegalen Einwanderung aufgrund eines „Notstands“ nicht strafbar sei. Der ehemalige Kommandeur sowie Einsatzleiter von Proactiva-Open Arms wurden im März 2018 nach einem Rettungseinsatz unter der Koordination der italienischen Behörden angeklagt. Die Besatzung weigerte sich, den Anweisungen zu folgen und der libyschen Küstenwache zu erlauben, die abschliessende Rettung von 218 Menschen zu übernehmen. Ihre Begründung war, dass Libyen kein sicherer Ort sei.

Diese Entscheidung ist nicht nur ein gutes Zeichen für die Rettungsteammitglieder der „Open Arms“, sondern auch für die breitere Anerkennung der Unbedingtheit der Grundsätze des Seerechts und der Pflicht, Leben auf See zu retten.

Inmitten andauernder Fluchtbewegungen über das Mittelmeer: Tragischer Schiffbruch vor der Küste Lampedusas vermieden

Seit unserem letzten „Blick auf das zentrale Mittelmeer“ sind nach Angaben des UNCHR fast 3.000 Menschen auf dem Seeweg nach Italien gekommen. Zu Beginn des Monats wurde eine Zunahme von Ankünften auf Lampedusa beobachtet. Zwischen dem 1. und 6. November kamen fast 2.000 Menschen auf der italienischen Insel an. Am 4. November wurde ein tragischer Schiffbruch nur knapp verhindert; ein Schlauchboot mit etwa hundert Menschen, darunter Frauen und Kinder, schlug bei der Ankunft gegen einen Felsen.

Die Kapazitäten des auf 192 Plätze ausgelegten zentralen Erstaufnahmelager Lampedusas wurden in diesem Zuge stark überschritten. In den vergangenen zwei Wochen wurden bis zu 1.350 Menschen beherbergt. Fast 900 Überlebende wurden in den vergangenen Tagen an Bord zweier Quarantäneschiffe, der Allegra und der Rhapsody, gebracht. Der italienische Journalist Sergio Scandura und lokale Medien berichteten von einem Zwischenfall, der sich davor an Bord der Rhapsody ereignete: Am letzten Oktoberwochenende sollen sich 9 Personen durch das Verschlucken von Rasierklingen und Glasscherben selbst verletzt haben. Sie wurden in Krankenhäuser in Palermo evakuiert.

Weitere Ereignisse im zentralen Mittelmeer: in den vergangenen zwei Wochen wurden mindestens 172 Menschen von der tunesischen Küstenwache gerettet.

Am 7. November wurden 28 Menschen vor Kerkennah gerettet, berichtete die französische Presseagentur AFP.

Vier Tage zuvor, so ein Mitglied des tunesischen Parlaments, habe die tunesische Küstenwache 31 Menschen aus einem Boot gerettet, das von Libyen abgelegt habe.

Am 26. Oktober wurde ein tragischer Schiffbruch vermieden, bei dem die tunesische Marine und die tunesische Küstenwache laut lokalen Medien 113 Menschen, darunter 9 Kinder, vor Sfax aus einem sich mit Wasser füllenden Boot retteten.

Überlebende der „April-Tragödie“ reichen Klage ein

Fünfzig Personen, die im April vergangenen Jahres nach Libyen zurückgezwungen wurden, sowie zwei Geschwister von auf See Verstorbenen, haben eine Verfassungsbeschwerde gegen die maltesische Regierung angestrengt. Ihr Anliegen ist es, Gerechtigkeit für eine ihrer Ansicht nach verzögerte Rettung und eine von den maltesischen Streitkräften koordinierte Rückführung zu erlangen. Die Klage wird von der maltesischen Bürgerrechtsorganisation Repubblika unterstützt. Es wird angegeben, dass fünfzig der Kläger an Bord eines Bootes in Seenot waren, welches schon drei Tage bevor die maltesischen Behörden das private Fischerboot “Dar As-Salam“ zum Einsatz beorderten, von einem Frontex-Flugzeug in der maltesischen Such- und Rettungszone gesichtet worden war. In dieser Zeit starben mehrere Menschen auf dem Boot, Überlebende wurden nach Libyen zurückgezwungen. Nach Angaben der Times of Malta macht das Verfahren verschiedene Menschenrechtsverletzungen geltend, darunter unmenschliche und erniedrigende Behandlung, Kollektivausweisung sowie Verletzungen des Rechts auf Leben und des Rechts auf Asyl.

Zunahme von Fluchtversuchen über die Atlantikroute – von der westafrikanischen Küste nach Spanien. Über 200 Personen wurden als tot oder vermisst gemeldet.

Anknüpfend an die vorangegangene Ausgabe unseres „Blick auf das zentrale Mittelmeer“ konzentrieren wir uns hier auf die jüngsten Entwicklungen im westlichen Mittelmeer und auf der Atlantikroute.

Fast 2.000 Menschen kamen allein am letzten Wochenende auf rund 40 Booten auf den Kanarischen Inseln an. Auf einem Boot mit 160 Menschen, von denen viele unter Dehydrierung litten, konnte – Berichten zufolge – eine Person nur noch tot geborgen werden.

In den vergangenen zehn Tagen kamen mehrere hundert Menschen auf den Kanarischen Inseln, den Balearen und in Südspanien an. Dabei konnten mindestens zwei Menschen nur noch tot von den Booten, die die spanische Küste erreichten, geborgen werden.

Eine Person wurde am 2. November tot auf einem Boot gefunden, das in der Nähe von Gran Canaria von Salvamento Marítimo und der spanischen Guardia Civil gerettet worden war.

Am 4. November wurden 72 Menschen aus einem Boot südlich von Teneriffa gerettet, darunter ein Verstorbener und drei Personen in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Zeugenaussagen zufolge waren sie nach dem Ablegen von der senegalesischen Küste zehn Tage lang auf See gewesen.

Fast 200 Menschen gelten seit dem Versuch, Ende Oktober die Kanarischen Inseln zu erreichen, als vermisst. Inzwischen wird berichtet, dass mindestens 140 Menschen bei dem von der IOM als „tödlichster Schiffbruch des Jahres“ bezeichneten Schiffsunglück am 24. Oktober starben, als ein Boot mit etwa 200 Migranten vor der senegalesischen Küste sank (siehe „Blick auf das zentrale Mittelmeer #5“). Laut Aussagen von 27 Überlebenden sollen bei einem weiteren Schiffbruch vor der mauretanischen Küste mehr als fünfzig Menschen ums Leben gekommen sein.

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