Ein Jahr medizinische Versorgung durch das medizinische Team von SOS MEDITERRANEE auf der Ocean Viking

DATUM

Im Sommer 2020 brach die Ocean Viking erstmalig zu einem Einsatz auf, bei dem sich die Crew von SOS MEDITERRANEE um alle Bereiche der Betreuung der Geretteten an Bord kümmerte – einschließlich der medizinischen Versorgung. Die Notwendigkeit und Möglichkeit hierzu ergab sich durch das Ende der Partnerschaft mit Ärzte ohne Grenzen (MSF). Seitdem haben die medizinischen Teams von SOS MEDITERRANEE bei vier Einsätzen auf dem Mittelmeer 1.329 geretteten Menschen geholfen, drei medizinische Notevakuierungen angefordert und vorbereitet, sich um insgesamt neun schwangere Frauen gekümmert und mehr als 1.400 Beratungen für diverse gesundheitlichen Beschwerden an Deck und in der Bordklinik durchgeführt.

Jeder der vier Einsätze der Ocean Viking brachte im vergangenen Jahr unterschiedliche Herausforderungen für das medizinische Team an Bord mit sich. Hygieneprotokolle und standardisierte COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen hatten einen grundlegenden Einfluss auf den Ablauf von Rettungseinsätzen, das Verhalten der Crew an Deck und auf dem gesamten Schiff sowie auf die Interaktion mit den Überlebenden an Bord.

 

 

Viele der 181 Menschen, die während des Einsatzes im Juni und Juli 2020 gerettet wurden, litten unter schweren psychischen Problemen. Diese äußerten sich in Form von Unruhe, Depression, Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit. Dieser psychische Druck wurde durch das tagelange Warten auf einen Sicheren Hafen, ohne jegliche Information seitens der Behörden, zusätzlich verstärkt und war für einige der Überlebenden unerträglich.

Nachdem die Ocean Viking nach fünf Monaten behördlicher Festsetzung in Italien im Dezember 2020 wieder freigelassen wurde, war das Team an Bord während des Einsatzes im Januar und Februar 2021 mit anderen Herausforderungen konfrontiert: Zwei der 84 geretteten Frauen befanden sich im Spätstadium einer Risikoschwangerschaft und mussten von der Ocean Viking evakuiert werden. Viele der geretteten Frauen berichteten dem medizinischen Team zudem von sexueller oder sexualisierter Gewalt, welche sie auf ihrer Flucht erlitten hatten.

 

 

Während des Einsatzes im April und Mai 2021 mussten mehrere Überlebende aufgrund von schmerzhaften Hämatomen und Prellungen behandelt werden. Die Menschen waren aufgrund schlechter Wetterbedingungen und eingeschränkter Sichtverhältnisse in der Nacht verängstigt gewesen und hatten gezögert, auf die Schlauchboote zu steigen. Die Schlepper hatten sie jedoch mit Gewalt und Schlägen auf die Schlauchboote gezwungen.

Während mehrerer Einsätze stellte das medizinische Team im vergangenen Jahr COVID-19-Fälle unter den Geretteten fest. Es wurden daraufhin eigens für dieses Szenario konzipierte Isolationsmaßnahmen ergriffen. Diese sollten die Ausbreitung von COVID-19 unter den Geretteten und der Crew an Bord eindämmen.

Einige Beschwerden und Krankheitsbilder wurden besonders häufig beobachtet und in der Bordklinik behandelt. Dazu gehören Hautinfektionen und -erkrankungen, Krätze, Infektionen der oberen Atemwege, Schmerzen (einschließlich allgemeiner körperlicher Schmerzen, Muskelschmerzen und Prellungen), Wunden und Verletzungen – teilweise durch Gewalt verursacht – einschließlich Treibstoffverbrennungen, sowie Seekrankheit. Das häufige Vorkommen von Krätze und anderer Hautkrankheiten, körperlicher Schmerzen sowie die zahlreichen Fälle von Infektionen der oberen Atemwege, sind Folgen der menschenunwürdigen Lebensbedingungen, die viele der Überlebenden ertragen mussten – auf ihrer Flucht und speziell in Libyen, wo jeglicher Zugang zu medizinischer Versorgung fehlt. Andere Erkrankungen oder Beschwerden stehen hingegen in einem direkten Zusammenhang mit der gefährlichen Überquerung des Mittelmeers: Verbrennungen durch Treibstoff, durch Umwelteinflüsse entstandene Hauterkrankungen, Seekrankheit und Dehydrierung.

 

Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Nachsorge ist die psychische Betreuung Geretteter. Da die mentale Stärke und Resilienz von Mensch zu Mensch verschieden ist, kann sich ein ähnliches Erlebnis auf ganz unterschiedliche Weise auf die psychische Verfassung einer Person auswirken und sie ebenso unterschiedlich auf ein Ereignis reagieren lassen. Daher können die Teams von SOS MEDITERRANEE keine generalisierende Aussage über die mentale Verfassung Geretteter an Bord treffen. Wir beobachten aber, dass sich die Erfahrungen in unterschiedliche Weise an Bord äußern: Kummer oder Traurigkeit lassen einige Menschen verstummen und sich innerlich zurückziehen. Dieselbe Erfahrung kann aber auch Angespanntheit oder Frustration zur Folge haben. Was wir aber vor allem sehen, ist die hohe Widerstandsfähigkeit und Resilienz Geretteter – Menschen, denen es möglich ist, mit den schrecklichen Erfahrungen zu leben, die es schaffen, Zukunftspläne zu schmieden und sich gegenseitig zu unterstützen und sich aufeinander zu verlassen.

Da ein langer Aufenthalt für die Überlebenden an Bord nicht vorgesehen ist, kann unser Team keine angemessene therapeutische Betreuung leisten. Dennoch ist unser Team darauf vorbereitet und wird vorab ausgebildet, psychologische Erste Hilfe zu leisten. Durch dieses Training wird jedes Teammitglied darauf vorbereitet, im Notfall mit posttraumatischen Erlebnissen Geretteter oder mit deren Berichten über traumatische Erfahrungen umgehen zu können. Bei der Ausschiffung versucht das medizinische Team Gerettete, welche dringend einer physischen oder psychischen Gesundheitsversorgung und Betreuung bedürfen, an spezialisierte Akteure an Land zu verweisen.

 

 

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Fotos:

Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE
Fabian Mondl / SOS MEDITERRANEE
Flavio Gasperini / SOS MEDITERRANEE
Hippolyte / SOS MEDITERRANEE

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