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Emmanuel – 32 Jahre alt, aus Ghana – wurde am 30. Juni 2020 von den Teams der Ocean Viking gerettet. Bei seiner Ankunft an Bord war er sehr geschwächt. Vier Tage und drei Nächte trieb er zusammen mit weiteren 46 Menschen in einem überbesetzten Holzboot im zentralen Mittelmeer – verloren, ohne Lebensmittel, Wasser und Treibstoff.

In der langen Zeit, die die 180 Geretteten an Bord auf einen sicheren Hafen warteten, erzählte der zweifache Familienvater einen Teil seiner Geschichte.

Wir können nicht gut schlafen, weisst du? Jede Nacht denken wir an unsere Familien zu Hause, an unsere ungewisse Zukunft und daran, was uns in Libyen und auf See zugestossen ist. Auf unserem kleinen Boot waren wir irgendwann völlig verloren. Mir wurde klar, dass ich die Kontrolle über mein Leben völlig verloren hatte. Es lag nicht mehr in meinen Händen. Ich dachte, wir würden dort sterben. Allein.

„Es gibt keine Gerechtigkeit, nur viel Ungerechtigkeit in Libyen.“

In Libyen habe ich gelernt, stark und wachsam zu sein: körperlich stark, um auf dem Bau arbeiten zu können -das war die einzige Option, die wir hatten. Geistig stark, weil die Schwächsten dort drüben sterben; und wachsam, um nicht ins Gefängnis [Internierungslager] gebracht zu werden. Man kann in Libyen auf so viele Arten betrogen werden. Egal ob man ein Ausländer ist, oder wer auch immer, man kann jederzeit entführt werden. In diesem Land hat man keine Kontrolle über sein Leben. Dass Menschen getötet werden, interessiert in Libyen niemanden. Wenn ein Mensch getötet wird, fragt niemand danach. In Libyen gibt es keine Gerechtigkeit, nur viel Ungerechtigkeit. Du kannst auch von einer „Privatpolizei“ verhaftet werden, denn durch den Krieg und das Chaos sind in den verschiedenen Gebieten unterschiedliche Gruppierungen an der Macht. Die „Asma-Jungs“ tragen zum Beispiel Uniformen, die wie Polizeiuniformen aussehen. Sie haben auch Waffen, aber sie bringen einen nicht an einen legalen Ort. Sie entführen Menschen gegen Lösegeld. Alles, was sie wollen, ist Geld.

Das sind einige der Gründe, warum wir Libyen „die Hölle auf Erden“ nennen, aber das sind nicht die einzigen.

Wir sind auch Opfer von Zwangsarbeit. Zum Beispiel bezahlte der Landbesitzer nach Monaten harter Arbeit im Baugewerbe meinen Arbeitgeber. Anschließend sagte mir dieser Mann, er habe nur einen kleinen Teil des Geldes erhalten, um sich damit zu rechtfertigen, dass er mich nicht bezahlt habe. Mir wurden 40% von 12.000 libyschen Dinar (4.800 libysche Dinar = 3.200 CHF) versprochen. Aber am Ende bekam ich keinen einzigen Dinar. Das passiert so vielen Menschen in Libyen. Doch das sagen sie einem erst, wenn die Arbeit fast abgeschlossen ist. Man kann niemandem in diesem Land vertrauen.

Ich kam im Februar 2020 in Libyen an. Weniger als einen Monat später wollte ich von dort weg. Doch die Flucht aus diesem Land ist fast unmöglich.

„Wir dachten, es sei eine vierstündige Reise, mit einem Kapitän und einem guten Boot.“

Bevor ich in das Boot stieg, wusste ich, dass ich Libyen um jeden Preis verlassen musste. Ich hatte keinen Platz in meinem Kopf, um darüber nachzudenken, wie gefährlich diese Reise war. Ich war bereits in Gefahr. Ich dachte, es sei eine vierstündige Reise, mit einem Kapitän und einem guten Boot. Als der Abend kam, wurden wir schliesslich in dieses Holzboot gesetzt, in dem sich viel zu viele Menschen befanden. Niemand wusste, wie wir den Weg nach Europa finden sollten, aber wir hatten keine Wahl mehr. Wir konnten nicht mehr in die Hölle auf Erden zurückkehren.

Am ersten Tag trieben wir mitten im Nirgendwo, mitten auf dem Meer und die See wurde rauer. Das Boot fuhr im Kreis: es ging nicht vorwärts, nicht rückwärts. Am zweiten Tag wurde mir bewusst, dass das Meer grösser war, als wir dachten. Wir hatten uns schon mehrmals verfahren. Manchmal sahen wir am Horizont einige Schiffe. Nach stundenlangem Fahren sahen wir die gleichen Schiffe wieder, am gleichen Ort. Da wurde mir klar, dass wir uns völlig verirrt hatten. Zu der Zeit hatten wir keine Nahrung mehr. Die Wellen liessen das Boot von einer Seite auf die andere schwanken. Wir beschlossen, ein wenig zu schlafen, um dann zu versuchen, unsere Gedanken zu ordnen. Es waren die ersten paar Stunden Schlaf innerhalb von 48 Stunden. Sie waren nicht wirklich effektiv, aber körperlich notwendig: Wir standen vor so vielen Herausforderungen.

Wir verbrachten vier Tage suchend auf See. Am vierten Tag stellten wir fest, dass der Treibstoff zur Neige ging und der Motor stehen blieb. Er ging einfach kaputt. Zu diesem Zeitpunkt dachten wir, unsere Leben wären verloren und einige von uns begannen zu beten. Wir beschlossen, um Hilfe zu rufen. Von etwa 6 Uhr morgens bis 16 Uhr abends erhielten wir keine Antwort. Dann sahen wir einen tunesischen Fischer, der nach der Arbeit zum Hafen zurückfuhr. Wir baten ihn um Hilfe und er gab uns Essen und Wasser, genug für alle. Er gab uns auch das Stück, das wir zur Reparatur unseres kaputten Motors brauchten. Wir behoben das Problem und führten unsere Flucht fort.

Gegen 18.00 Uhr sahen wir ein Flugzeug [Seabird der NGO Sea Watch] über unserem Boot und in Richtung eures Schiffes fliegen. Kurze Zeit später sahen wir euer Rettungsteam. Wir beschlossen anzuhalten, um zu sehen, was passieren würde. Einige von uns hatten Angst, dass ihr uns Schaden zufügen würdet. Ich war zu diesem Zeitpunkt zu müde und verwirrt, um nachzudenken. Hätten wir unseren Weg fortgesetzt, so meine Empfindung, wäre ich bestimmt gestorben. In dem Moment war ich mir sicher, dass ich mein kleines Mädchen nie wieder gesehen hätte. Aber ich werde sie wiedersehen. Jetzt weiss ich, dass ich sie, meinen Jungen und meine Frau wiedersehen werde. Eines Tages.“

„Ich habe Ghana verlassen, weil ich keine andere Wahl hatte.“

Es gibt viel Elend in Afrika. Wir stehen vor vielen Herausforderungen. Überall gibt es Kriege, Korruption und wir haben eine hohe Arbeitslosenraten unter Hochschulabsolventen. Viele Hochschulabsolventen können das auch bezeugen. Ich bin einer von ihnen. Ich bin ein IT-Ingenieur. Menschen, die aus afrikanischen Ländern fliehen, fliehen nicht wegen eines Traums. Ich habe Ghana verlassen, weil ich keine andere Wahl hatte.

In meinem Heimatland habe ich gelernt, allein zu leben. Als ich aufwuchs, in der High School, war ich der Zweitbeste meiner Klasse. Ich träumte davon, Anwalt zu werden, weil ich fest an die Gerechtigkeit glaube, doch ich konnte es mir nicht leisten. Ich konnte nicht einmal die Prüfungen für die Aufnahme an einer juristischen Fakultät bezahlen. Ausserdem bestanden im Jahr 2019 nur 2% der Studenten ihre Aufnahmeprüfung! Als ich das Gymnasium beendete, arbeitete ich als Lehrer an Privatschulen und in NGOs um mein IT-Studium zu bezahlen, aber am Ende war es umsonst. Ich konnte keine Stelle finden.

Weisst du, die Kleider, die ich bei mir trage, diese Hose und dieser Pullover, sind die einzigen Kleider, die ich habe, seit ich mein Land verlassen habe. Sie begleiteten mich von Ghana bis hierher, auf die Ocean Viking. In Libyen habe ich nichts gekauft. Nicht ein einziges Kleidungsstück. Mein Hemd habe ich auf See verloren, darüber bin ich traurig. Es war so ziemlich alles was ich hatte, ein Beweis dafür, was ich im vergangenen Jahr erlebt habe. Immerhin habe ich jetzt ein schönes neues Armband, das mir eine Frau an Bord gemacht hat. Es ist gut es als Erinnerung an das, was uns widerfahren ist, zu haben. Dieses neue Armband ist jetzt das Symbol für ein neues Leben. Dank euch haben wir alle die Chance, am Leben zu sein und ein neues Kapitel in unserem Leben zu beginnen.

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Interview: Laurence Bondard, Communication Officer an Bord der Ocean Viking
Photo credits: Flavio Gasperini / SOS MEDITERRANEE

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