Interview mit Christine – Leiterin des medizinischen Teams an Bord der Ocean Viking

DATUM

Die Krankenschwester Christine war als Leiterin des medizinischen Teams auf der Ocean Viking sieben Wochen lang im Rettungseinsatz an Bord. In dieser Zeit hat die Crew hunderte Menschen aus Booten in Seenot gerettet. Viele von ihnen hat Christine zusammen mit ihrem Team – eine Ärztin, eine Hebamme sowie eine weitere Krankenschwester – medizinisch versorgt. Auch die Einhaltung der strengen COVID-19-Protokolle an Bord hat ihr Team beschäftigt.

  1. Es war schon länger dein Wunsch, einmal auf einem zivilen Rettungsschiff arbeiten. Warum?

Ich wollte nach langer Pause erneut Menschen, die in Not sind, unterstützen. Bis 2007 hatte ich in zahlreichen Projekten von Ärzte ohne Grenzen weltweit Erfahrung gesammelt. Danach habe ich in der palliativen Pflege gearbeitet, was mich sehr erfüllt, aber ich möchte mich auch politisch und gesellschaftlich engagieren. Die Tätigkeit in der Seenotrettung scheint so viel Wut und Hass in der Bevölkerung zu wecken, obwohl wir Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer eine Hand reichen, damit sie nicht ertrinken. Dazu sind wir verpflichtet, aber ich betrachte es auch als Gebot der Menschlichkeit.

  1. Was sind die Aufgaben des medizinischen Teams bei und nach einer Rettung? Was könnt ihr mit eurer Bordklinik leisten?

Viele Überlebende sind direkt nach ihrer Rettung zutiefst erschöpft, manche haben Treibstoffdämpfe eingeatmet, was zu Verwirrung führen kann. Je länger sie in ihrem seeuntauglichen Boot unterwegs waren, desto grösser ist das Risiko, dass sie durch zu wenig Trinkwasser austrocknen, durch Nässe und Kälte unterkühlen oder der Sonne zu stark ausgesetzt sind. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die medizinische Versorgung in Libyen mangelhaft ist und viele Menschen furchtbare Verletzungen erlitten haben, körperlich und auch seelisch. Viele Frauen sind vergewaltigt worden. Manche kommen schwanger an Bord unseres Rettungsschiffes.

Unsere Aufgabe ist es, sofort nach der Aufnahme an Bord zu entscheiden, wer am dringendsten medizinische Hilfe

benötigt. Ist es die Frau, schwer belastet durch eine Vergewaltigung und hiervon schwanger, oder der kleine Junge mit unstillbarem Erbrechen, oder der 18-Jährige, dessen Bein nach einer unbehandelten Fraktur schief zusammengewachsen ist und dessen zweites Bein Folternarben aufweist?

Unsere Klinik ist sehr gut ausgestattet und somit können wir akute gesundheitliche Probleme wie eine Lungenentzündung, Austrocknung oder infizierte Wunden behandeln. Wir haben ausreichend Antibiotika und Schmerzmittel an Bord, die wichtigsten Medikamente. Die Klinik hat einige Betten, sodass Menschen auch zur Überwachung über Nacht bleiben können. Und wenn es doch eine Situation gibt, die Intensivüberwachung benötigt, erbitten wir eine medizinische Evakuierung. Während der beiden Einsätze, an denen ich teilgenommen habe, gab es zweimal eine solche Situation. Beide Male war es eine Frau mit einer Risikoschwangerschaft.

  1. Sobald Gerettete an Bord sind, tritt ein strenges Hygieneprotokoll in Kraft, damit mögliche Coronavirus-Infektionen sich nicht ausbreiten können. Wie funktioniert das mit mehreren hundert Geretteten an Deck?

Mit mehr als vierhundert Menschen an Bord kann ausreichend Abstand kaum eingehalten werden. Aber die Geretteten tragen medizinische Masken und werden zur Handhygiene angehalten, Wasser und Seife gibt es genug. Die Unterkünfte sind offen, sodass sie dauerhaft belüftet werden, und am Tag sind die Menschen meist an Deck, also draussen.

Wir als Crew tragen Schutzkleidung, oft mit Schutzbrillen, und immer eine enganliegende FFP2-Maske. Wir haben ausreichend Schnelltests an Bord und testen Menschen mit COVID-19-Symptomen. Bei der letzten Rettung gab es Coronavirus-Infektionen an Bord unter den Geretteten. Es gibt die Möglichkeit der Isolierung, aber natürlich nicht für eine sehr hohe Anzahl von Betroffenen. Nach jeder Rettung erbitten wir sofort einen sicheren Hafen – beim Auftreten von COVID-19-Fällen an Bord ist das natürlich umso dringlicher.

  1. Wie ist es möglich, mit Schutzanzug, Maske und Visier oder Schutzbrille zu den Menschen, die vielfach Gewalt, Folter und Ausbeutung erlebt haben, Vertrauen aufzubauen?

Die Menschen ahnen schnell, dass wir in ihrem Interesse handeln, also ihr Überleben sichern und sie nicht nach Libyen zurückbringen, sondern sie an einen sicheren Ort. Unser Team teilt ihnen dies umgehend mit und beruhigt sie diesbezüglich Nach Abschluss der Rettung und Registrierung gibt es eine Willkommensrede, in der erklärt wird, wer wir sind, was wir tun und wie der Ablauf auf dem Schiff gestaltet ist. Natürlich wissen wir nicht, wieviel Vertrauen in den folgenden Tagen entsteht. Aber es reicht oft dafür, dass sie uns ihre Fluchtgeschichten erzählen oder sich in unsere medizinische Versorgung begeben.

  1. Du hast jahrzehntelange Erfahrung in der globalen humanitären Hilfe, hast in Konfliktregionen und Flüchtlingslagern gearbeitet. Wie hast du die Rettungen und die Zeit mit den Geretteten an Bord erlebt? Was war für dich neu oder überraschend?

Meine Freude über die Rettung von vielen Menschen war und ist immer noch überschattet von der Tatsache, dass im gleichen Zeitraum noch mehr Menschen von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgezwungen wurden in eine Situation voller Gewalt, Ausbeutung, Hunger und Aussichtslosigkeit. Die Zeit mit den Geretteten an Bord war zu kurz, um eine Beziehung aufzubauen. Aber einige werden mir in Erinnerung bleiben: Zum Beispiel der Sudanese mit einer tiefen Kopfwunde, der in Libyen zusammengeschlagen wurde. Trotz seiner schwierigen Situation erschien er gefasst, aber auch dankbar, dass er für wenige Tage in unserer Obhut war. Ich befürchte, er wird noch einen weiten Weg vor sich haben.

Nothilfe bedeutet für mich, einem anderen Menschen beim Überleben zu helfen; die Seenotrettung tut dies in solch direkter Form, dass es mir den Atem verschlägt.

  1. Angesichts der Realität für flüchtende Menschen, der humanitären Katastrophe auf dem Mittelmeer: Wie geht die EU deiner Einschätzung nach mit der Situation um?

Wir sollten nicht von einer humanitären Katastrophe sprechen; es ist viel eher eine politische Katastrophe und als Folge eine menschliche Tragödie. Beides zeigt, dass die Werte der europäischen Union im Mittelmeer nicht gelten. Die Angst vor dem „Fremden“ führt offensichtlich dazu, dass Menschenrechte verweigert werden und Menschenleben wenig bedeuten. Die Tatsache, dass wir alle finanziell dazu beitragen, dass die libysche Küstenwache Menschen zurück in die unmenschlichen Lager zwingt, denen sie gerade entkommen sind, beschämt mich zutiefst. Und es motiviert mich und hoffentlich viele andere auch, gegen dieses Unrecht vorzugehen.

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Interview: Petra Krischok
Fotonachweise: Titelbild – Fabian Mondl / SOS MEDITERRANEE, Galerie – Flavio Gasperini / SOS MEDITERRANEE und Hippolyte / SOS MEDITERRANEE

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