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Die Person, die für die Kommunikation auf der Ocean Viking verantwortlich ist, ist ein wichtiger Teil des Teams an Bord. Von den bis zu drei Kommunikationsverantwortlichen des Einsatzteams von SOS MEDITERRANEE ist jeweils eine Person auf See und eine an Land tätig. Eine der Hauptaufgaben der Kommunikationsverantwortlichen auf der Ocean Viking ist es, Erfahrungen von Überlebenden an Bord zu sammeln, um die Realität auf See zu bezeugen und den Stimmen der Geretteten Gehör zu verschaffen. Wir haben einer der Kommunikationsverantwortlichen, Julia, drei Fragen gestellt, um mehr über die Arbeit im Allgemeinen und die Gespräche mit Geretteten zu erfahren.

Was gehört zu den Aufgaben der Kommunikationsverantwortlichen des Einsatzteams? 

Da wir sowohl an Land als auch an Bord der Ocean Viking arbeiten, sind unsere Aufgaben vielfältig und hängen von unserer jeweiligen Position ab. Im Allgemeinen reichen unsere Aufgaben von klassischer Pressearbeit, Kontextbeobachtung, interner Kommunikation und Pressesprecher*in bis hin zum Sammeln von audiovisuellem Material und Geschichten von Überlebenden an Bord der Ocean Viking. Bei jedem Einsatz auf See heissen wir unabhängige Journalist*innen an Bord willkommen. Wir Kommunikationsverantwortliche sind ihre Anlaufstelle auf dem Schiff. Wir sorgen dafür, dass das Team an Land regelmässig über unsere Einsätze auf See und alles, was auf der Ocean Viking passiert, informiert wird, und wir bearbeiten die Presseanfragen an das Team an Bord. Aber am wichtigsten ist, dass wir die Geschichten der Menschen, die wir retten, festhalten. Unsere Hauptaufgabe ist es, denjenigen eine Stimme zu geben, deren Geschichten sonst wahrscheinlich nicht gehört werden, und die Situation auf dem zentralen Mittelmeer zu bezeugen.

Wie funktioniert das Sammeln von den Schicksalen der Geretteten? 

Wir befragen die Überlebenden nicht zu einem bestimmten Teil ihres Lebens oder ihrer Reise, sondern wir sammeln ihre Geschichten. Dies wirkt sich auch darauf aus, wie sich die Gespräche im Allgemeinen entwickeln: Was die Überlebenden mitteilen möchten, bleibt ihnen überlassen, und wir zwingen niemanden, über eine schmerzhafte Erfahrung zu sprechen oder bestimmte Details preiszugeben.

In den meisten Fällen veröffentlichen wir die Geschichten der Überlebenden in Form von langen Zitaten, wobei wir direkt abschreiben, was die Überlebenden uns erzählen. Wenn sich jemand entschliesst, einen Teil seiner Lebensgeschichte mit mir zu teilen, empfinde ich das als grosse Ehre und Verantwortung. Egal welchen Teil der Lebensgeschichte die Person mitzuteilen beschliesst, er muss nicht ausgeschmückt oder dramatisiert werden. Wir fügen vielleicht einige Hintergrundinformationen über den Überlebenden oder die Situation, in der das Gespräch stattfand, hinzu, aber ansonsten lasse ich die Person, wo immer möglich, in ihren eigenen Worten sprechen.

Vor meinem ersten Einsatz als Kommunikationsverantwortliche an Bord auf der Ocean Viking war meine grösste Sorge, dass niemand mit mir sprechen möchte. Ich war überrascht, dass, sobald die Überlebenden meine Rolle an Bord verstanden hatten, diejenigen, die ihre Geschichte erzählen wollten, zu mir fanden und nicht umgekehrt. Die Motivation der Menschen, einen Teil ihres Lebens zu erzählen, ist unterschiedlich: Manche wollen berichten, was ihnen widerfahren ist, um andere zu warnen. Vielleicht wurden sie mit einem Trick dazu gebracht, nach Libyen zu reisen, oder sie wurden mit falschen Versprechungen in das Land gelockt und wollen nicht, dass andere dasselbe Schicksal erleiden. Andere wollen ihre Geschichte einfach deshalb erzählen, weil sie zum ersten Mal seit langem das Gefühl haben, dass ihre Geschichte von Bedeutung ist und dass das, was ihnen widerfahren ist, einen Bericht wert ist.

Es ist mir wichtig klarzustellen, dass ich diese Gespräche an Bord nicht führe, um die Inhalte für eine Veröffentlichung nutzen zu können. In den meisten Fällen handelt es sich einfach um Gespräche zwischen zwei Menschen, die sich zufällig in einem aussergewöhnlichen Moment ihres Lebens in einer besonderen Umgebung befinden. Meine Kolleg*innen und ich sprechen nicht nur mit Überlebenden, wenn wir als Kommunikationsverantwortliche damit beauftragt sind, Material zu sammeln und Inhalte zu produzieren.

Bei den Geschichten, die wir veröffentlichen, stellen wir sicher, dass die Überlebenden wissen, wo und wie ihre Worte veröffentlicht werden. Für audiovisuelles Material und Informationen, die wir öffentlich verwenden, holen wir eine informierte Zustimmung ein, und wir nehmen diesen Teil unserer Arbeit sehr ernst. Informierte Zustimmung bedeutet, dass die geretteten Menschen verstehen müssen, dass ihre Geschichten im Internet veröffentlicht werden und überall auf der Welt gelesen werden können, auch in ihren Herkunftsländern, aus denen sie vielleicht wegen Verfolgung geflohen sind. Manchmal fragen mich Überlebende, warum irgendjemand daran interessiert sein könnte, ihre Geschichte zu lesen. Dann erkläre ich ihnen, warum wir darüber sprechen und wie wenig viele Menschen über Menschen wissen, die gezwungen sind, das Mittelmeer zu überqueren.

Erinnern Sie sich an eine bestimmte Geschichte oder ein bestimmtes Gespräch? 

Ich glaube wirklich, dass ich mich an jede Geschichte erinnern kann, die mir erzählt wurde. Die Leute fragen oft, wie wir sicherstellen, dass wir die Geschichten nicht „mit nach Hause nehmen“ oder sie an uns herankommen lassen. Wir lernen Techniken, um das so genannte „Trauma aus zweiter Hand“ zu vermeiden, den traumatischen Stress, der entstehen kann, wenn man die traumatischen Erfahrungen einer anderen Person aus erster Hand hört. Wir führen nach jedem Einsatz eine Nachbesprechung mit Fachleuten durch, um über die stressigen Situationen, denen wir auf See begegnen, zu sprechen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir Geschichten vergessen können oder sollten oder dass die Geschichten uns nicht „berühren“, wenn wir sie hören. Das Privileg, das wir im Gegensatz zu den Leser*innen haben, besteht darin, dass wir auch mit den Menschen ausserhalb des Interviews interagieren. Wir sehen andere Facetten der Überlebenden als die oft traumatischen Erfahrungen, die sie mit uns teilen – wir sehen sie vielleicht tanzen oder scherzen, mit Freunden interagieren und an Deck helfen. Mir hilft es mich immer daran zu erinnern, dass diese Person, was auch immer sie erlebt hat, hier ist und viel mehr ist als das, was ihr widerfahren ist.

Ein Beispiel für eine Geschichte, die mich wirklich erschüttert hat, war letzten Sommer, also ich auf meinem Einsatz mit einem jungen Mann sprach, welcher vor kurzem vor dem Krieg in Tigray, Äthiopien, geflohen war. Ich habe schon mit Menschen gesprochen, die erzählten, dass sie vor dem Krieg in ihrem Heimatland geflohen sind, aber dieser Mann, der sich entschied, Musse genannt zu werden, beschrieb so detailliert, was er sah. Er beschrieb Dinge, die Sie und ich nur im Fernsehen oder vielleicht auf Kriegsfotografien sehen, Panzer auf der Strasse, Soldaten mit Raketenwerfern auf der Ladefläche von Pick-ups. Er beschrieb ein Generationentrauma und jahrzehntelange Vorurteile zwischen ethnischen Gruppen, die eskalierten und zu dieser extremen Gewalt führten. Und zwischendurch wurde ich immer wieder daran erinnert, wie ähnlich wir uns in mancher Hinsicht waren: Er hatte Landwirtschaft studiert und erzählte von seinem Freundeskreis an der Universität. Ich habe auch eine tolle Gruppe von Freunden aus der Universität. Sie waren eine Gruppe von sechs Personen, und zwei von ihnen waren getötet worden. Unvorstellbar. Das war nur eine Geschichte von vielen, aber wenn ich jetzt Berichte über Kriege und Konflikte sehe, muss ich an Gruppen von Freunden wie die meine denken, die ängstlich darauf warten, voneinander zu hören.

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