DATUM

Als Kind sah ich das Mittelmeer als ein ruhiges, blaues Wasser, ein Synonym für Urlaub und Freude. Im Laufe der Jahre habe ich jedoch gelernt, dass das Mittelmeer eigentlich gar nicht so sehr ein ruhiges, unbedrohliches Wasser ist. Es kann jeden Moment erwachen und ausbrechen. Das erste Mal erlebte ich dies, als wir Ende Oktober mit der Ocean Viking Neapel in Richtung zentrales Mittelmeer verliessen und ein „Medicane“, ein mediterraner Wirbelsturm, die sizilianische Küste traf. Um nicht in sieben Meter hohen Wellen zu navigieren, suchten wir im Hafen Schutz.

Später, als wir bereits über 300 Menschen an Bord hatten, wurden wir nachts von vier Meter hohen Wellen überrascht, die über das Deck spülten. Die Wellen waren höher als das Deck. Die Geretteten wachten auf und rutschten an Deck von einer Seite auf die andere, sie waren völlig durchnässt. Wir versorgten sie unermüdlich mit neuen trockenen Decken, Kleidern und Wollmützen und versuchten, uns einen Weg über das Deck zu bahnen. Im Morgengrauen beruhigte sich das Meer endlich. Ein Foto kann niemals die Realität solcher Wetterbedingungen wiedergeben: Der Wind und die Gischt, die einem ins Gesicht schlagen, der Lärm, das Wasser, das einen von Kopf bis Fuss durchnässt, das Schiff, das sich unermüdlich auf und ab und von Steuerbord nach Backbord bewegt, der Gesichtsausdruck der Geretteten, die erstaunt sind, in einem Sturm aufzuwachen. Dieses Foto ist nur ein blasses Abbild dieser Realität.

Während ich wusste, dass wir trotz dieses Sturms auf einem Schiff wie der Ocean Viking in Sicherheit waren, musste ich unweigerlich an das Schicksal der Menschen denken, die zur gleichen Zeit in seeuntauglichen Booten die Flucht aus Libyen wagen könnten. Sie hätten keine Chance zu überleben. Zu wissen, dass Menschen immer noch gezwungen sind, in solchen Booten zu fliehen, ist eine grausame Realität.

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Foto: Claire Juchat / SOS MEDITERRANEE

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