Presseerklärung: „Es ist eine Schande, dass Überlebende, die beinahe auf See gestorben wären, auf einem Rettungsschiff gestrandet sind“

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Luisa Albera, Such- und Rettungskoordinatorin an Bord der Ocean Viking

„Nach bis zu zehn Tagen bei schlechtem Wetter auf See sind die 294 verbliebenen Frauen, Kinder und Männer auf der Ocean Viking erschöpft. Sie wurden in vier herausfordernden Einsätzen im zentralen Mittelmeer gerettet. Es ist eine Schande, Überlebende, die beinahe auf See gestorben wären, auf einem Rettungsschiff festsitzen zu lassen. Die Teams von SOS MEDITERRANEE und der IFRC (Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften) tun ihr Bestes, um sie zu versorgen und ihr zusätzliches Leid zu lindern, aber ein Schiff ist nur ein vorübergehender Aufenthaltsort. Sie müssen sofort von Bord gehen und dringend benötigte weitere Hilfe erhalten.

Am vergangenen Montag hat der Seegang dazu geführt, dass über 75% der Geretteten seekrank wurden. Die meisten von ihnen benötigten Medikamente, um die zusätzliche Erschöpfung zu lindern. Dies hat den physischen und psychischen Zustand dieser ohnehin schon vulnerablen Menschen weiter beeinträchtigt. Am Nachmittag des 3. Mai musste einer der Geretteten in ein Krankenhaus mit einer chirurgischen Abteilung notevakuiert werden.

Nach zwölf Anfragen auf die Zuweisung eines sicheren Hafens warten diese immer noch. Wir sehen, wie diese ungerechtfertigte Verzögerung das Leiden und die psychische Belastung von Menschen, die bereits extrem traumatische Ereignisse erlebt haben, von Tag zu Tag verstärkt.

Unter den Überlebenden befinden sich auch Frauen und Kinder, von denen das jüngste erst ein Jahr alt ist. Insgesamt sind 127 unbegleitete Minderjährige an Bord; sie haben Torturen erlebt, die kein Kind jemals durchmachen sollte.

Viele der Überlebenden, die vom Team von SOS MEDITERRANEE am 25. April gerettet wurden, haben uns erzählt, dass zwölf Menschen während der Überfahrt ins Wasser gefallen und ertrunken sind. Ein junger Mann, den wir zum Schutz seiner Identität Inoussa nennen, erzählte unseren Teams, dass er bei diesem tragischen Ereignis einen Freund verloren hat. Er sagte, dass diese Person alle Menschen an Bord des überfüllten Schlauchboots während der gefährlichen nächtlichen Überfahrt beruhigte und ihnen riet, „ruhig zu bleiben“ und „keine Panik zu schüren“. „Wir haben drei Möglichkeiten“, sagte Inoussas Freund kurz vor dem tragischen Ereignis zu allen, „zu sterben, nach Libyen zurückgebracht zu werden oder endlich in Sicherheit zu kommen“. Inoussa schloss: „Für meinen Freund hat es mit der ersten Option geendet, er starb auf dem Meer.“

Die Teams von SOS MEDITERRANEE und der IFRC leisten den Geretteten rund um die Uhr medizinische und psychologische Hilfe. Ein Schiff ist jedoch nicht der geeignete Ort, um extrem vulnerable und traumatisierte Menschen über einen längeren Zeitraum zu versorgen. Viele Überlebende schilderten, dass sie in Libyen und auf ihrer Flucht zusätzlich zu ihrem Leiden auf See extremer Gewalt und Missbrauch ausgesetzt waren. Inoussa, der am 25. April von den Teams auf der Ocean Viking gerettet wurde, teilte gestern Morgen seine Verzweiflung: „Mir wird übel, wenn ich sehe, wie sich mein Freund wegen Seekrankheit übergibt, wenn ich sehe, wie die Frauen und Kinder unter dieser langen Wartezeit auf See leiden. Die Wellen, jeden Tag die gleiche Notnahrung, schlafen auf Deck …“.  Alle Überlebenden an Bord müssen dringend von Bord zu gehen. „Je länger das Warten dauert, desto verzweifelter wird man und desto mehr schwindet die Hoffnung,“ so Inoussa.

Wir fordern die zuständigen Behörden dringend auf, diese lange Untätigkeit zu beenden und ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen und uns ohne weitere Verzögerung einen sicheren Ort zuzuweisen.

Das Seerecht, wie die SOLAS-Verordnung, verpflichtet „die Regierungen zur Koordinierung und Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass Kapitäne von Schiffen, die Menschen in Seenot Hilfe leisten, von ihren Verpflichtungen entbunden werden“ und dass „in jedem Fall innerhalb einer angemessenen Zeit ein sicherer Ort zur Verfügung gestellt wird“. Die Überlebenden haben nach ihrer Rettung über eine Woche auf See gewartet, das kann nicht als angemessen betrachtet werden. Einmal mehr versäumen es die europäischen Staaten, einen koordinierten, geregelten Mechanismus für die Ausschiffung von Menschen in Seenot zu gewährleisten.“

Luisa Albera, Such- und Rettungskoordinatorin von SOS MEDITERRANEE

 

Hintergrundinformationen

Die Teams an Bord der Ocean Viking retteten zwischen dem 24. und 27. April in vier schwierigen Einsätzen in internationalen Gewässern vor der libyschen Küste 295 Menschen in Seenot. Die Ocean Viking ist ein Rettungsschiff das von der zivilen maritimen und humanitären Organisation SOS MEDITERRANEE in Zusammenarbeit mit der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) gechartert wird.

Unter den 294 Überlebenden, die an Bord der Ocean Viking festsitzen, befinden sich 127 unbegleitete Minderjährige. Die meisten der Überlebenden leiden an Unterkühlung, Seekrankheit und Erschöpfung. Nach den tragischen Erlebnissen während der Flucht und auf See zeigen viele der Geretteten Anzeichen von Trauma und psychischer Belastung und benötigen weitere Unterstützung.

SOS MEDITERRANEE ist eine europäische maritime und humanitäre Organisation, die auf die Todesfälle im Mittelmeer und das Versagen der Europäischen Union bei der Verhinderung dieser Todesfälle reagiert. Die im Mai 2015 von Bürger*innen gegründete Organisation hat seit Beginn ihrer Einsätze auf See 35.333 Menschen gerettet.

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