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Die kritische Situation der Kinder, die ohne ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten das zentrale Mittelmeer nach Italien überqueren, nimmt alarmierende Ausmasse an. Laut einem UNICEF-Artikel vom 28. September 2023 haben zwischen Januar und Mitte September 2023 über 11’600 Kinder die gefährliche Überquerung durchgemacht, was einer Zunahme von 60 Prozent gegenüber dem entsprechenden Zeitraum des Vorjahres entspricht. Dieser deutliche Anstieg gibt Anlass zu grossen Sicherheitsbedenken für unbegleitete Minderjährige.  

Diese jungen Menschen, die vor Krieg, Konflikten, Gewalt und Armut in ihren Herkunftsländern fliehen, sehen sich äusserst gefährlichen Bedingungen ausgesetzt. Durch den Einsatz von überladenen Schlauchbooten oder ungeeigneten Fischerbooten sind sie aufgrund fehlender koordinierter Such- und Rettungskapazitäten erhöhten Risiken ausgesetzt. Die eingeschränkte Zusammenarbeit auf See bei der Anlandung macht sie noch anfälliger.  

Kinder in Subsahara-Afrika sind in jeder Phase ihrer Reise besonders stark von Ausbeutung und Missbrauch bedroht. Im Jahr 2023 verloren mindestens 3’041 Personen, darunter viele Kinder, bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren, ihr Leben. Das sind fast dreimal so viele wie 2020, weshalb 2023 zum tödlichsten Jahr seit 2017 wurde. Diese traurige Bilanz macht deutlich, dass Massnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit von Kindern auf See dringend notwendig sind.  

Angesichts dieser Herausforderungen hat SOS MEDITERRANEE seit Beginn seiner Tätigkeit im Jahr 2016 39’435 Menschen gerettet, davon 7’610 Minderjährige. Im Jahr 2023 wurden 665 Kinder gerettet. 496 von ihnen waren unbegleitet, was einer alarmierenden Quote von 75 % entspricht. 20 von ihnen waren jünger als 5 Jahre.   

Eine wirksame Koordination der Such- und Rettungseinsätze sowie Anlandungen an sicheren Orten werden ebenfalls befürwortet, um weitere Tragödien zu verhindern. Ein sicherer Ort ist jener Ort, an dem Rettungseinsätzen als abgeschlossen gelten. Dies muss gemäss dem Seerecht zudem ein Ort sein, an dem das Leben der Geretteten nicht mehr bedroht ist und ihre Grundbedürfnisse befriedigt werden können.  

Der dringende Handlungsbedarf ist spürbar. Um jedem Kind eine sicherere Zukunft zu bieten, muss die internationale Gemeinschaft zusammenarbeiten, um die humanitäre Krise im Mittelmeer zu beenden und dafür zu sorgen, dass kein Kind mehr die Schrecken dieser gefährlichen Überfahrt erleiden muss.  

Credits: Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE

IHRE BEWEGENDEN GESCHICHTEN 

Die vielfältigen Geschichten der Überlebenden widerspiegeln eine komplexe Realität und unterschiedliche Beweggründe für das Verlassen des jeweiligen Heimatlandes. Die Betroffenen sind mit existenziellen Benachteiligungen und oft auch lebensbedrohlichen Gefahren in ihren Herkunftsländern konfrontiert. Sie begeben sich auf gefährliche Migrationsrouten, die sie oft durch mehrere Länder und auch Wüsten führen.   

Einige Überlebende, die von SOS MEDITERRANEE gerettet wurden, hatten sich ursprünglich nicht für Europa als Endziel entschieden, als sie ihr Land verliessen. Ihr Ziel ist nicht immer im Voraus festgelegt und ändert sich je nach Situation. Für viele war die Überquerung des Mittelmeers mit behelfsmässigen Booten der einzig mögliche Ausweg.   

Die Berichte der von SOS MEDITERRANEE geretteten Personen beschreiben diese Erfahrungen. In Libyen werden Migrant*innen, Asylsuchende und Geflüchtete häufig von Behörden oder bewaffneten Gruppen festgenommen. Sie werden in informellen Gefangenenlagern eingesperrt und müssen unter Androhung von Gewalt ein Lösegeld zahlen, um ihre Freilassung zu erwirken. Die Art der Haftorte variiert und reicht von offiziellen Haftanstalten bis hin zu Einrichtungen, die von Milizen oder Einzelpersonen betrieben werden.  

Unter diesen Umständen erleiden die Überlebenden regelmässige körperliche Gewalt, unzureichende Ernährung, schlechte Gesundheitsbedingungen, sexuelle und verbale Übergriffe sowie Folter zur Erpressung von Lösegeldern. Eine gesundheitsschädliche Überbelegung verschärft die Lage der Betroffenen noch weiter. Es gibt Zeug*innen, die Hinrichtungen selbst miterlebt haben.  Migrant*innen, die oft nicht in der Lage sind, das Lösegeld zu zahlen, laufen Gefahr, in Menschenhandelsnetze hineingezogen und unter sklavenähnlichen Bedingungen zur Verrichtung von Zwangsarbeit genötigt zu werden. Besonders schutzbedürftige Minderjährige sind dabei einem erhöhten Risiko für Menschenhandel ausgesetzt. Manchmal gelingt es ihnen, durch Zahlung beträchtlicher Summen aus den Gefangenenlagern in Libyen zu entkommen und mit Hilfe von Schleppern übers Meer zu fliehen. Trotz der hohen Zahlungen sind sie oft gezwungen, unter Waffendrohung überladene und für die Schifffahrt ungeeignete Boote zu besteigen. Es gibt keine Garantie, dass sie ihr Ziel erreichen. Und leider verlieren so manche ihr Leben auf See oder werden von der lokalen Küstenwache nach Libyen zurückgeschickt.  
Sowohl für Erwachsene als auch für Minderjährige ist die Überquerung des Mittelmeers oft der einzige Ausweg aus der libyschen Hölle. Auf ihrer verzweifelten Suche bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihr Leben auf See zu riskieren, um einem unerträglichen Schicksal zu entfliehen. Ihre Aussagen sind einhellig: «Es ist besser, auf See zu sterben, als in Libyen zu bleiben.»   

Ada* wurde am 7. Januar von der Ocean Viking aus einem in Not geratenen und überladenen Schlauchboot gerettet. Sie gehört zu den ersten 37 Personen, die 2023 von SOS MEDITERRANEE gerettet wurden. Nach fünf Jahren in Libyen verbirgt sich hinter ihrem Lächeln an Bord eine Welt voller Leid. Dies ist ihre Geschichte:  

 

Mit 15 Jahren verliess ich Nigeria wegen der Unsicherheit dort. Ich habe eine Tochter in meiner Heimat, aber ich hatte nicht die Mittel, um mich um sie zu kümmern. Meine Eltern sind tot. Schon bald fand ich mich als Gefangene in Libyen wieder. Sie haben mich entführt und nannten das «Kalabush». Ich fand mehrere Jobs. In der Regel putzte ich die Häuser anderer Leute, wurde meist aber nicht bezahlt. Ich sah keine Zukunft in Libyen, die Menschen werden dort nicht gut behandelt. Ich habe viermal versucht, über das Meer zu fliehen, wurde bisher aber dreimal zurückgeschickt. Bis ihr uns heute gerettet habt: «Gott segne euch».   

Die drei Male, die ich auf dem Meer abgefangen wurde, kam ich direkt ins Gefängnis**. Das erste Mal war ich einen Monat gefangen, das zweite Mal drei Monate, das letzte Mal eine Woche. Ich habe dort jeden Tag geweint. Sie wollten Lösegeld von mir, aber ich hatte zu Hause niemanden, den ich anrufen konnte. Sie gaben uns nur ein Stück Brot pro Tag und salziges Wasser zu trinken. Zweimal gelang mir die Flucht, und einmal liessen sie mich gehen, nachdem sie von mir bekommen hatten, was sie wollten. Ich wusste, dass es sehr gefährlich war, auf dieses Boot zu gehen, aber welche andere Wahl hatte ich denn? Ich will frei sein; ich will ein Leben für mich haben, ich will eine Zukunft für meine Tochter aufbauen, ich will nicht mehr allein sein.   

*Der Name wurde geändert, um die Identität der überlebenden Person zu schützen.    

** Überlebende sprechen oft von «Kerkern» oder «Gefängnissen», wenn sie von ihrer willkürlichen Inhaftierung in informellen Haftlagern sprechen.     

 

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