[BORD-TAGEBUCH] „Meine eindrücklichste Erinnerung an die Aquarius war der Tag, an dem ich ein winziges Baby umarmte.“

DATUM

Viviana, geboren und aufgewachsen an der sizilianischen Küste, hat drei Leidenschaften: das Meer, Begegnungen mit anderen Kulturen und die Rettungsarbeit. 

„Ich wurde am Meer in Sizilien geboren und bin dort auch aufgewachsen. Ich habe immer Wassersport betrieben, und so war es ganz natürlich, dass ich Rettungsschwimmerin wurde. Aber seit fünf Jahren ist mein eigentlicher Beruf die Aufnahme und Begleitung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Italien. Zuerst arbeitete ich in Aufnahmezentren des Schutzsystems für Asylbewerber und Flüchtlinge (SPRAR) in Sizilien. Meine Aufgaben dort lagen hauptsächlich im administrativen Bereich: Identifizierung von Personen, Kontakte zu den Polizeipräsidien, Aufenthaltsgenehmigungen, Asylanträge … Nach einiger Zeit verspürte ich das Bedürfnis, meinen Horizont zu erweitern und habe ein Masterstudium im Bereich Menschenrechte mit dem Schwerpunkt „Migration und Entwicklung“ an der Fakultät für Humanwissenschaften in Bologna gemacht.

Meine Forschungsarbeit beschäftigte sich vor allem mit Rettungseinsätzen auf See, basierend auf meinen Erfahrungen mit SOS MEDITERRANEE und auf der Aquarius. Während meiner Tätigkeit für das Aufnahmezentrum „Hub Mattei“ in Bologna war ich nebenher viel ehrenamtlich für SOS MEDITERRANEE Italien aktiv. Jetzt bin ich Teil des Rettungsteams auf der Aquarius. Ich habe verschiedene Funktionen an Bord: Pilotin des RHIB [Rettungsschnellboot], logistisches Management, Assistentin für Einsätze an Deck … Ganz zu schweigen von der Wartung der Aquarius, an der wir uns alle beteiligen, und das ist ein echter Seemannsjob! An Bord der Aquarius habe ich wirklich das Gefühl, die drei Leidenschaften meines Lebens vereinen zu können: das Meer, anderen Kulturen zu begegnen und mehr über sie zu erfahren und Menschen zu helfen … Hier sind wir nicht nur Retter auf See, sondern auch humanitäre Helfer, denn wir unterstützen das Team von Ärzte ohne Grenzen bei der Aufnahme von Geflüchteten an Bord. So beteiligen wir uns an der medizinischen Begleitung der Überlebenden an Bord, an der Identifizierung ggf. bestehender Schutzbedürftigkeiten, an der psychologischen Unterstützung, der Verteilung von Mahlzeiten …“

Hoffnung fürs Leben

„Ich glaube, meine stärkste Erinnerung an die Aquarius war der Tag, an dem ich ein winziges Baby umarmte – gerade ein paar Wochen alt – als seine Mutter an Bord kam. Seine Haut war von Krätze übersät. In eine Decke eingewickelt, war es so leicht, dass es nichts zu wiegen schien. Und ich dachte: Hier auf unserem Boot können wir ihm wenigstens ein wenig Hoffnung auf Leben geben.
Meine schlimmste Erinnerung ist noch sehr frisch. Es war unsere letzte Rettung oder vielmehr unsere letzte Reihe von Rettungen, als wir 4 Boote in zwei Tagen retteten. Unter den in Seenot geratenen Booten war eins ohne jegliche Passagiere. Wir haben nur Spuren von ihnen finden können: hier und dort herumtreibende Kleidung, Plastikflaschen … Aber wir haben nie herausgefunden, was mit den Insassen dieses Gummibootes passiert ist; ob sie gerettet worden sind und wenn ja, von wem und unter welchen Bedingungen … Eine Art Geisterschiff, verloren mitten im Mittelmeer, wie so viele andere, von denen wir wahrscheinlich nie etwas erfahren werden …“

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Interview und Text: Alexandre Duibuisson
Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Sowa
Photo Credits: Laurin Schmid / SOS MEDITERRANEE

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