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Samuel, ein 25-jähriger Südsudanese, wurde am 18. September 2021 von der Crew auf der Ocean Viking gerettet. Er befand sich mit 24 anderen Erwachsenen und Kindern, darunter einem 1-jährigen Baby, an Bord eines kleinen Holzbootes in Seenot. Er und die anderen wurden dank eines ersten Alarms des Seabird-Flugzeugs von Sea-Watch von der Ocean Viking gefunden. 

«Wenn du es schaffst, mit deinen Eltern per Telefon oder Videoanruf zu sprechen, fangen sie an, dich zu verprügeln. Du sprichst mit deinen Eltern, während du schreist.» 

Bevor Samuel vom Team der Ocean Viking gerettet wurde, hatte er bereits dreimal versucht, übers Meer aus Libyen zu fliehen. Bei den ersten beiden Versuchen wurde er von der libyschen Küstenwache abgefangen, gewaltsam nach Libyen zurückgebracht und an einem Ort festgehalten, den er als «Gefängnis» bezeichnet, der jedoch auch ein Inhaftierungslager sein könnte. Er verbrachte drei Monate in Haft, «96 Tage», wie er angibt. Wenn er sich an diese Zeit erinnert, beschreibt er sie als die «Hölle».  

Samuel an Deck der Ocean Viking. Er wartet auf die Erlaubnis, an einem sicheren Ort von Bord gehen zu dürfen. © Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE

«Wir wurden wie Dreck behandelt», erklärt er. «Wir wurden ohne Grund geschlagen, manchmal sogar im Schlaf. Sie kamen am Morgen, gaben dir ein Stück Brot für den ganzen Tag und schlugen dich. Ich habe nicht verstanden, was da vor sich ging. Nicht mal das Wasser war rein, es war salzig. Und wir bekamen lediglich einen Liter pro Tag.» In den drei Monaten, die er in Haft verbracht hat, ass Samuel insgesamt nur 96 Brotstücke und trank 96 Liter salziges Wasser. Er hat mitgezählt.  

Samuel hat im Inhaftierungslager Menschen aus vielen verschiedenen Ländern getroffen. «Es gibt so viele Gefängnisse in Libyen und so viele Menschen, die zurzeit inhaftiert sind. Menschen aus Nigeria, dem Südsudan, dem Nordsudan, dem Tschad, Äthiopien, Somalia, aber auch Menschen aus dem Jemen, Bangladesch und anderen Ländern. In dem Gefängnis in dem ich war, befanden sich etwa 1’500 bis 2’000 Menschen.» Über 1’500 Menschen hielten sich an einem Ort auf, den er als ungefähr so gross wie die Ocean Viking (15 Meter breit und 69 Meter lang) beschreibt. «Wir hatten praktisch keinen Sauerstoff im Inneren. Die Container waren sehr klein.» 

Samuel musste bezahlen, um freigelassen zu werden. «Manchmal sagen sie einem, man solle seine Eltern, Familienmitglieder oder Freunde anrufen, um Geld zu bekommen. Wenn du das Geld nicht bekommst, sagen sie dir, dass du sterben wirst. Wenn du es schaffst, mit deinen Eltern per Telefon oder Videoanruf zu sprechen, fangen sie an, dich zu verprügeln. Du sprichst mit deinen Eltern, während du schreist: ‘Ich will Geld! Ich brauche Geld! Sie bringen mich jetzt um!’ Deine Familie oder Freunde werden daraufhin so schnell wie möglich Geld schicken. Viele Menschen sind so gestorben.» Samuels Preis wurde auf 1’000 US-Dollar festgesetzt. Sein Bruder hat das Geld geschickt.   

 «Ich habe drei Menschen vor meinen Augen sterben sehen.» 

Samuel wurde in Libyen mit dem Tod konfrontiert. «Ich habe drei Menschen vor meinen Augen sterben sehen», erinnert er sich. Sie stammten wie Samuel aus dem Südsudan. Einer von ihnen wurde beim ersten Abfangen durch die libysche Küstenwache auf See getötet. «Wir wurden erst nach Libyen zurückgeschickt und dann, als wir uns der libyschen Küste näherten, wurden wir ins Gefängnis gesteckt. Ein Mann versuchte zu fliehen. Er wurde erschossen.» Samuel hat auch «viele andere Geschichten von Menschen, die in Libyen getötet wurden» gehört, aber zumindest musste er sie «nicht mit ansehen».  

Da er über vier Tage lang auf die Zuweisung eines sicheren Hafens warten musste, befürchtete Samuel selbst zum Zeitpunkt, als er uns seine Geschichte erzählte, noch nach Libyen zurückgeschickt zu werden. «Wir sind froh, dass wir hier sind, weil wir leben. Trotzdem haben wir haben immer noch Angst, weil wir nicht wissen, wo wir von Bord gehen werden. Einige Leute an Bord dieses Schiffes haben Angst, nach Libyen zurückgebracht zu werden. Das wäre sehr schlimm.» 

«Ich habe ein Englisch aus dem Jahr 2012. Ich möchte wieder mit meiner Ausbildung beginnen.» 

Samuel ist aufgrund des Krieges geflohen, der zur Teilung des Sudan in die beiden Länder Sudan (Nord) und Südsudan führte. «Seit 2013 gibt es im Südsudan keine gute Bildung mehr. Im Moment gibt es eine Art Frieden, aber dieser ist nicht stabil. Wir wissen nicht, ob plötzlich wieder Krieg ausbricht.» 

Samuels Englisch ist tatsächlich «gebrochen», so wie er es beschreibt. Er gibt sich grosse Mühe, auszudrücken, was ihm vorschwebt. «Ich möchte studieren. Ich möchte lernen, wie Erdöl gefördert wird», fährt er fort. «Weil der Südsudan viel Erdöl hat, das von Ausländern ausgebeutet wird.»  

Am 25. September, als ihm endlich mitgeteilt wird, dass er und die 122 anderen Überlebenden an Bord der Ocean Viking an einem sicheren Ort von Bord gehen können, lächelt Samuel zum ersten Mal seit seiner Ankunft wieder. «Ich bin sehr glücklich. So glücklich. Vielen Dank, dass ihr uns gerettet habt. Wir sind glücklich, weil wir am Leben sind und Libyen nicht wiedersehen werden.» 

Das Gespräch mit Samuel wurde von Laurence Bondard, Kommunikationsverantwortliche an Bord der Ocean Viking, geführt und dokumentiert  und von einer unseren Freiwilligen aus Bern ins Deutsche übersetzt. 

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