DATUM

Seit Beginn der Einsätze im Jahr 2016 konnte SOS MEDITERRANEE insgesamt 5‘232 Frauen retten (ein Anteil von ca. 15% an den insgesamt 34‘878 Geretteten). Wie viele Frauen in dieser Zeitspanne auf dem Meer ums Leben gekommen sind, kann niemand sagen.


Am 19. und 20. Februar 2022 konnten 247 Gerettete von der Ocean Viking gehen. Unter ihnen waren diese junge Frau und ihr fünf Monate altes Baby. Sie mussten eine Woche auf See auf die Zuweisung eines sicheren Hafens warten, während sich das Wetter zunehmend verschlechterte. Für Kleinkinder, stillende Mütter und einige besonders schutzbedürftige Personen sind solche Wartezeiten besonders belastend, da sie aufgrund der durch die Seekrankheit verursachte Übelkeit dehydrieren können.  Foto: Giannis Skenderoglou / SOS MEDITERRANEE

TRIGGERWARNUNG: Dieser Bericht enthält Beschreibungen physischer und sexualisierter Gewalt.

„Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. (…) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Die ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zählen die zahlreichen Verletzungen auf, welche uns die geretteten Frauen an Bord der Aquarius und später der Ocean Viking von ihrer Flucht erzählen. Doch trotz der erlittenen Gewalt, trotz der gefährlichen Flucht über das Meer, beeindrucken die geretteten Frauen mit unglaublicher Stärke.

“Wenn es uns gelingt, Leichen zu finden und das Geschlecht der Opfer zu erkennen, stellen wir fest, dass es viel öfter Frauen sind, welche auf See oder in der Wüste ihr Leben verlieren.” sagt Camille Schmoll, Studienleiterin an der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS). Niemand weiss jedoch, wie viele der 23.000 Toten im Mittelmeer, gemäss der Internationalen Organisation für Migration seit 2014 [1], Frauen sind. Die Dunkelziffer ist noch weitaus höher.

Foto: Fabian Mondl / SOS MEDITERRANEE

Gefährliche Überfahrt

Faduma* war eine der 314 Menschen, die im November 2021 von den Teams auf der Ocean Viking gerettet wurden. Sie erklärte, dass der Schmuggler eines Nachts dorthin kam, wo sie sich versteckten, um sie an den Strand zu bringen:

“Es waren so viele Leute da, dass ein kleines Boot wie das, das auf uns wartete, nicht ausreichte. Einige Leute, darunter auch ich, mussten in das Boot steigen. Die meiste Zeit an Bord mussten wir zusammengekauert verbringen, einer über dem anderen. Bei den hohen Wellen und ohne frische Lust wurde mir schlecht. Es war furchtbar.” [Ganze Erzählung von Faduma]

Seit Beginn der Rettungseinsätze von SOS MEDITERRANEE haben die Rettungsteams beobachtet, dass den flüchtenden Frauen eine besondere Position an Bord der Boote zugeteilt wird. Sie befinden sich in der Regel in der Mitte, also im Inneren. Nach Aussagen von Geretteten werden die Frauen von den Männern an Bord so weit weg vom Wasser wie möglich platziert, um sie vor dem Ertrinken zu schützen. Jedoch wird gerade diese Position von den Seenotretter*innen als besonders gefährlich eingestuft, denn die Personen in der Mitte des Bootes sind dem auslaufenden Benzin ausgesetzt, das sich, vermischt mit Salzwasser, in eine giftige, hautverätzende Substanz verwandelt.

Während der Rettungseinsätze verteilen die Seenotretter*innen Schwimmwesten an alle Schiffbrüchigen, evakuieren die medizinischen Notfälle und bringen dann zuerst Frauen und Kinder in Sicherheit. Kinder werden entweder zusammen mit der Mutter oder mit einer anderen Begleitperson geborgen. Dass die verletzlichsten Personen – also Verletzte, Frauen und Kinder – Priorität haben, ist ein Grundprinzip der Seenotrettung.

Foto: Laurin Schmid / SOS MEDITERRANEE

 

Frauen auf der Flucht

Frauen können sich zwar aus denselben Gründen wie Männer dafür entscheiden, ihr Herkunftsland zu verlassen (Krieg, Konflikte, Verfolgung, Armut, Hunger, Suche nach besseren Lebensbedingungen…), doch fliehen sie häufiger als Männer vor häuslicher und sexualisierter Gewalt, insbesondere vor Zwangsheirat. Manchmal verlassen sie ihre Heimat auch, um ihre Kinder zu schützen – bei kleinen Mädchen oft vor Beschneidung – und ihnen bessere Zukunftsperspektiven zu bieten.

„Ich bin aus der Elfenbeinküste geflohen, um meine anderthalbjährige Tochter vor der Genitalverstümmelung zu bewahren. Ich wollte nicht, dass sie dasselbe Schicksal erleidet wie ich, denn in unserer Heimat ist Beschneidung Tradition.“  [Ganze Erzählung von Maïmouna]

Viele Frauen, die von den Teams von SOS MEDITERRANEE gerettet wurden, sind auf ihrer Flucht Opfer sexualisierter Gewalt geworden – vor allem in Libyen. Die Gewalt, die ihnen angetan wurde, hat in vielen Fällen sichtbare körperliche Spuren und unsichtbare psychische Schäden hinterlassen. Auch waren viele aufgrund der Überfahrt erschöpft, unterkühlt und dehydriert. Ihre Haut war zudem durch die Mischung aus Meerwasser und Benzin, der sie auf den Booten ausgesetzt sind, angegriffen. Immer wieder hören die Mitarbeitenden von SOS MEDITERRANEE Geschichten wie die der 22-jährigen Aya*, die Anfang 2020 mit ihrem Mann und ihrer Tochter in internationalen Gewässern vor der Küste Libyens gerettet wurden.

„Frauen werden in eine Ecke gebracht, wo sie manchmal sogar von zwei bis drei Personen gleichzeitig vergewaltigt werden. Dann werfen sie sie zurück in eine Zelle. Ich habe gesehen, wie Frauen gingen und zurückkamen. Stell sie dir vor: Sie wurden zerstört, wollten sich umbringen, hatten ihre Würde verloren. Das ist sehr, sehr schwer mit anzusehen. Und es ist sehr beängstigend. In Gefängnissen sind Vergewaltigungen an der Tagesordnung.“ [Ganze Erzählung von Aya]

Foto: Kenny Karpov / SOS MEDITERRANEE

Auch die 27-jährige Angèle*, die im Januar 2021 vom SOS MEDITERRANEE Team auf der Ocean Viking gerettet wurde, wollte über die Misshandlungen sprechen, die sie während der willkürlichen Haft in Libyen erlitten und miterlebt hat.

„Ich war fünf Monate im Gefängnis. Osamas Gefängnis, das Schlimmste. Meine Eltern zahlten das Lösegeld, um mich herauszuholen, aber sie liessen mich nicht gehen. Was sie den Frauen dort antun, kann man gar nicht mehr Vergewaltigung nennen. Es gibt keinen Namen für das, was sie den Frauen antun. Es passiert jeden Tag. […] Aber zu sehen, wie sie Babys vergewaltigen, das ist schlimmer. Sie zwingen die kleinen Kinder, Dinge zu tun. Wenn die Mutter versucht, sie aufzuhalten, vergewaltigen sie sie. Sie haben Waffen, Eisenstangen, sie drücken ihre Zigaretten auf deinem Körper aus. Und sie filmen es. Sie alle haben Telefone, sie filmen alles. […] Ich entkam, weil sie mich für tot hielten und zurückliessen. Sie warfen mich in einen Container draussen, völlig nackt. So bin ich entkommen. […] Man muss Glück haben. Ich lebte fünf Monate in der Hölle.“ [Ganze Erzählung von Agnèle]

Foto: Kevin Mc Elvaney / SOS MEDITERRANEE

 

An Bord: Der Frauenschutzraum – Ein Zufluchtsort im Zufluchtsort

Sobald die Frauen an Bord der Ocean Viking in Sicherheit gebracht werden, werden sie vom Rettungsteam in den sogenannten „Shelter“ (Englisch für Zuflucht, Obdach) begleitet.

Dieser Raum garantiert Frauen und unbegleiteten Minderjährigen Schutz. Männer dürfen diesen Bereich nicht betreten, denn der „Shelter“ ist ein Raum der Vertraulichkeit, wo u.a. die Hebamme an Bord einen separaten Behandlungsraum betreibt. In diesem „safe space“ können die Frauen frei sprechen und bei Bedarf medizinische Behandlung in Anspruch nehmen.

Im Schnitt waren seit Beginn der Einsätze von SOS MEDITERRANEE acht Prozent aller geretteten Frauen schwanger. Viele waren zudem mit Babys oder Kindern auf der Flucht, zum Teil ohne Begleitung eines Mannes. Sie werden von der Hebamme und dem medizinischen Team betreut. Im Dezember 2021 wurden der elf Tage alte Makbyel und seine Mutter von der Rettungscrew auf der Ocean Viking gerettet. Sie hatte ihn nur wenige Tage zuvor in einem libyschen Lager geboren und hatte aufgrund der schwierigen Geburt in Libyen und ihrer gefährlichen Flucht kurz danach grosse Schmerzen.

Foto: Laurence Bondard / SOS MEDITERRANEE

 

Den geretteten Frauen eine Stimme geben

Neben den Rettungseinsätzen im zentralen Mittelmeer setzt sich SOS MEDITERRANEE dafür ein, die humanitäre Krise vor Ort zu dokumentieren und zu bezeugen und die Stimmen der Geretteten nach aussen zu tragen.

Dies ist umso wichtiger, um den Frauen, die in den Diskursen über Flucht und Migration oft nur begrenzt vorkommen, eine Stimme zu geben und ihnen die Möglichkeit zu geben, von sich zu erzählen. Die Frauen, die wir an Bord unserer Rettungsschiffe getroffen haben, haben uns mit ihrer aussergewöhnlichen Widerstandsfähigkeit und Stärke beeindruckt. Sie sind Heldinnen, denen wir das Wort geben möchten.

Während der Zeit an Bord öffnen sich viele Frauen und teilen ihre Geschichten: ihre Hoffnungen, ihre Träume, aber auch ihre Ängste und das, was sie auf der Flucht oder in ihrer Heimat erlebt haben.

“Ich beschloss, es noch einmal zu versuchen, denn ich konnte es nicht ertragen, meinen Sohn in einem Leben ohne Hoffnung zu sehen. Ich nahm so viel Mut zusammen, wie ich konnte, und wir fuhren erneut los. Es war dunkel, die Wellen waren hoch, ich war seekrank. Doch dieses Mal erschienen Sie auf der Bildfläche, und vom ersten Augenblick an wusste ich, dass Sie nicht die Libyer waren. Sie sprachen mit uns mit Respekt und Ruhe. Sie haben uns auf eine sichere Art und Weise gerettet. Ich bin so dankbar.” [die ganze Erzählung von Maha lesen]

Foto: Flavio Gasperini / SOS MEDITERRANEE


* Die Namen wurden geändert, um die Anonymität der Frauen, die Zeugnis ablegen, zu schützen. Die Fotos dienen der Illustration und entsprechen nicht den zitierten Überlebenden.

[1] « Missing Migrants » IOM: https://missingmigrants.iom.int/

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